Artenschwund durch industrielle Landwirtschaft
Säume, Hecken und blühende Ackerränder weren immer seltener
Nehmen wir mal die Moorente. Sie ist nur ein auf den ersten Blick untypisches Opfer des seit Jahrzehnten voranschreitenden Artenschwunds. 1983 meldete die Wochenzeitung „Die Zeit“, die letzte Moorente habe aufgrund der miserablen Umweltbedingungen das Land verlassen. Ein Signal und ein Symbol für den Umgang mit der hiesigen Natur? Ja, denn vernichtete Moore, trocken gelegte Feuchtwiesen, zugekippte Sümpfe und Sölle - die Landwirtschaft und andere Nutzer haben im Laufe der Jahrzehnte gerade in Norddeutschland wertvollen, nassen oder feuchten Lebensräumen das Wasser abgegraben. Manchmal hat man diesen Vorgang dann auch noch schönfärberisch Melioration genannt, doch von Verbesserung kann keine Rede sein: Die Moorente wurde vertrieben.
Die für Laien mit Tafel-, Reiher- oder anderen Enten mitunter zu verwechselnde Moorente hatte schließlich doch noch Glück. Nach Bayern kehrte sie mit einigen Exemplaren von allein zurück, auch in Sachsen brütet sie mit wenigen Paaren, darunter offenbar einige, die der Gefangenschaft von Entenliebhabern entkommen waren. Doch einen richtigen Schub, und das galt in der Vergangenheit immer wieder auch für andere Tierarten, ob Wanderfalke oder Wildkatze, erhält die Art erst, seit sie in menschliche Obhut geriet: Am Steinhuder Meer greift der NABU Niedersachsen der Moorente mit einem Auswilderungsprogramm gezielt unter die Fittiche.
Muss man einem Vogel, der über eine Enten-typische Flexibilität verfügt, auf die Sprünge helfen? Florian Melles, ehemaliger Projektleiter des NABU am Steinhuder Meer, kennt die Bedenken: Stimmt überhaupt der Lebensraum? Wie hoch ist das Risiko, auf dem Flug ins Winterquartier über der Adria oder Frankreich abgeschossen zu werden? Kennen die zur Auswilderung verwendeten inzwischen mehr als 600 Moorenten, deren Ahnen teilweise seit Generationen nur in Zoos wie in Köln oder Cottbus gelebt haben, noch natürliches Zugverhalten? Oder sind sie Stubenhocker geworden?
Beispiel Schwarzstorch
Vor 75 Jahren stand der Schwarzstorch in Niedersachsen kurz vor dem Aussterben. Der Bestand hat sich jedoch vor allem seit Beginn der Achtzigerjahre wieder erholt. Die Ornithologen zählen heute wieder um die 60 Brutpaare. Trotz dieser erfreulichen Entwicklung gilt der Bestand als keineswegs gesichert. Die Hauptgefährdungsursachen sind der Mangel an störungsarmen Bruthabitaten, die meist in alten, abgelegen Baumbeständen liegen, in denen Menschen kaum aktiv sind. Zum anderen ist die Nahrungssituation sehr eingeschränkt. Der Schwarzstorch ist zur Nahrungssuche auf deckungsreiche Lebensräume angewiesen, die zahlreiche, verhältnismäßig strömungsarme und ökologisch intakte Gewässer mit Flachwasserbereichen aufweisen.
Im Rahmen des Feldvögel-SchutpProjektes wurden Nahrungs-Tümpel angelegt und verbaute Fließgewässer in mäandrierende Bäche mit Kolken, Totholz und Kiesbänken geschaffen. Wichtig ist ebenfalls Deckung und natürlich muss das Gewässer über einen flachen, für den Schwarzstorch begehbaren Jagdbereich verfügen, in dem keine starke Strömung herrschen darf.
Tatsächlich blieben etliche der in die Freiheit entlassenen Steinhuder Moorenten im Winter in ihrer neuen Brutheimat – sie sind wenigstens teilweise gleich zuhause geblieben. Andere zogen gen Süden, wie der Abschuss einer aus dem Projekt stammenden Moorente über Frankreich belegt. Melles aber macht klar, dass die Auswilderung der Moorente, die europaweit noch nie gelang, nur ein Aspekt des Projekts ist: Denn mit der gleichzeitig nötigen Lebensraumverbesserung, wie sie rund ums Steinhuder Meer auch stattfand, wurde nicht nur der Moorente, sondern auch anderen Tieren geholfen. Etwa dem Laubfrosch, ein 2005 begonnenes, erfolgreiches Wiederansiedlungsprojekt der Ökologischen Schutzstation Steinhuder Meer in Kooperation mit dem NABU, ebenfalls am Steinhuder Meer.
Die Ausrottung von Arten durch den Menschen
Der Mensch nahm und nimmt im Zuge von Industrialisierung und Technisierung, zumal in der Landwirtschaft, wenig Rücksicht auf die Natur. Wer kennt sie noch, wer hat sie bewusst schon einmal gesehen? Schlangenadler, Kampfläufer, Doppelschnepfe, Lachseeschwalbe, Triel, Blauracke, Wiedehopf, Steinrötel und Seggenrohrsänger? Das sind Vögel, die entweder in Deutschland als Brutvögel ausgestorben sind oder zu den Ausnahmeerscheinungen gehören. Das Problem potenziert sich, weil die Erinnerung an frühere Zeiten verblasst. Theodor Fontanes Beschreibungen des Oderbruchs aus dem Jahr 1863 helfen an dieser Stelle: „Schwärme von wilden Gänsen bedeckten die Gewässer, ebenso Tausende von Enten ... Zuweilen wurden in einer Nacht so viele erlegt, dass man ganze Kahnladungen voll nach Hause brachte...“. Tatsächlich kann kaum jemand mehr den Natur-Reichtum des 19. Jahrhunderts ermessen. Es fällt bereits schwer, die Natur-Fülle der 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts nachzuvollziehen.
Auch Säugetiere wurden vertrieben: Den Elch traf es schon im 18. Jahrhundert, er verließ Deutschland. Der Braunbär folgte im 19. Jahrhundert und die Alpenfledermaus Mitte des 20. Jahrhunderts. Wenn diese Arten auch in Europa nicht völlig ausgestorben sind und mit viel Glück oder auch erst mit spezieller Förderung eines Tages wieder den Weg zurück finden: Von den 48.000 in Deutschland heimischen Tierarten sind drei Prozent bereits ausgestorben oder verschollen. Es sind die Vorboten eines fatalen Prozesses: Die Menschheit verursacht durch ihr Verhalten ein massenhaftes Ausrotten von Tier- und Pflanzenarten. Fünf Mal hat die Erde das bisher erlebt. Jedes Mal gingen 75 bis 96 Prozent der Arten verloren. Doch anders als früher sind es keine natürlichen Faktoren, die den Schub auslösen, sondern der Mensch ist für diese dann sechste Katastrophe verantwortlich. Nach Schätzungen des American Museum of Natural History werden vor dem Hintergrund menschlichen Tuns in den nächsten 30 Jahren 20 bis 50 Prozent aller Tierarten aussterben.
Die Abnahme der Biodiversität
Um 1800 aber, das erzählt der Ornithologe und Arzt Karl Schulze-Hagen in seinem Bericht „Allmenden und ihr Vogelreichtum – Wandel von Landschaft, Landwirtschaft und Avifauna in den letzten 250 Jahren“, gehörten Kampfläufer und Schlangenadler nicht nur zur regelmäßigen Brutvogelfauna unseres Landes, sondern sie waren auch nach heutigem Maßstab in geradezu „unvorstellbar hoher Individuenzahl“ Bewohner ganz unterschiedlicher, stets extensiv genutzter und weitflächiger Lebensräume, den so genannten Allmenden oder Gemeinheiten. Hierzu zählten Landschaftstypen wie Schotterebenen der Flusstäler, Magerfluren und Heiden oder Moore, Auen und lichte Wälder, die insgesamt etwa zwei Drittel der Fläche Mitteleuropas ausmachten und die das damalige Landschaftsbild prägten. Was heute davon noch existiert, sind Reste im kleinen Prozentbereich.
Beispiel Kuckucks-Lichtnelke und Co.
Artenreiche Grünlandflächen haben eine herausragende Bedeutung für den Gewässer-, Boden- und Klimaschutz. Zudem sind sie Lebensraum für zahlreiche bedrohte Tier- und Pflanzenarten. Von den in Deutschland gefährdeten Arten der Farn- und Blütenpflanzen haben etwa 40 Prozent ihren Verbreitungsschwerpunkt im Grünland. In den letzten Jahren ist es zu einem dramatischen Rückgang von artenreichen Grünlandflächen gekommen.
Das von der Niedersächsischen Bingo-Umweltstiftung geförderte Projekt "Kuckucks-Lichtnelke und Co." ermöglicht es Gruppen des NABU, bereits vorhandene Grünlandprojekte zu optimieren und neue artenreiche Wiesen anzulegen. Die Unterstützung der Maßnahmen reicht von der Kartierung und Bewertung von Grünlandflächen bis zur Beratung bei der Auswahl geeigneter Spenderpopulationen für Neuansiedlungen. In begrenztem Umfang kann auch eine finanzielle Unterstützung besonders vielversprechender Maßnahmen erfolgen. Voraussetzung für eine Teilnahme am Projekt ist die Sicherstellung einer nachhaltigen Bewirtschaftung oder Pflege von Seiten der Gruppe vor Ort.
Das Projekt wird durch den Landesfachausschuss Botanik im NABU Niedersachsen organisiert. Dazu gibt es Samentütchen des Projekts „Kuckucks-Lichtnelke und Co.“ Sie enthalten zertifiziertes Regiosaatgut aus dem Ursprungsgebiet Nordwestdeutsches Tiefland. Das Saatgut stammt ursprünglich aus verschiedenen Naturschutzgebieten Niedersachsens (zum Beispiel NSG Ochsenmoor am Dümmer, NSG Meerbruchwiesen am Steinhuder Meer oder Naturschutzpark Lüneburger Heide).
Das kollektiv genutzte Weideland für zahllose Herden von Schafen, Rindern, Pferden und anderen Haustieren schuf eine offene und oft rasenartige Vegetation und mit ihrem Strukturreichtum optimale Existenzbedingungen für eine Fülle von Pflanzen und Tieren. Es war das Spektrum solcher Weidelandschaften, in denen die Biodiversität Mitteleuropas wahrscheinlich um 1800 ihr Maximum erreicht hat.
Der zunehmende Bevölkerungsdruck führte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Aufteilung der Allmenden und zu immer größeren Umstrukturierungen der Landwirtschaft bis in die heutige Zeit, in deren Folge sich die Landschaft einschneidend veränderte und die Biodiversität dramatisch abnahm. Nur wenn es uns gelingt, den Wert von Natur und Landschaft als Ressourcen, die nicht kostenlos zu haben sind, anzuerkennen, wenn wir in die naturkundliche Breitenbildung investieren und mit großräumigem wie lokalem Einsatz, darunter auch mit Beweidungsprojekten, zum Erhalt einer strukturreichen und vielfältigen Landschaft beitragen, lässt sich der Rückgang an Arten und Individuen aufhalten. Unsere ganze Gesellschaft, jeder Einzelne muss dafür umdenken.
Und heute? Seit wenigen Jahren beobachtet der Biologe Stefan Stübing ein Phänomen, das er als „unheimliche Arten-Erosion“ bezeichnet. Ein Phänomen, das – vorläufig – nur der mitbekommt, der die Natur gut beobachtet. Ein Phänomen, das aber ganz unmittelbar als erschreckender Indikator für den Zustand unserer Natur gilt, zumal seit der Abschaffung der obligatorischen Flächenstilllegung 2008 der Insekten - wie Vogelwelt endgültig die Nahrung ausgeht. Beispiel Wetterau, Frühsommer 2014: Die Landschaft nördlich von Frankfurt ist eine der produktivsten in Deutschland. Öko-Landbau sucht man hier (fast) vergebens, vorherrschend sind Großbetriebe, die vor allem Getreide und Zuckerrüben produzieren.
In dieser Landschaft sind Säume, Hecken, blühende Ackerränder rar – und somit ist auch die Insekten - und die Vogelwelt an den Rand gedrückt. Der Ornithologe entdeckte dennoch die Brut eines Bluthänflings, eines an sich häufigeren Vogels der Agrarlandschaft, der aber seit langem unter dem anhaltenden Produktionsdruck leidet. Das erzeugt wahnwitzige Reproduktionsmechanismen. Einen Brutplatz hatte das Paar noch an dem Hof gefunden. Doch wie die Brut ernähren? Hänflinge, so das Handbuch der Vögel Mitteleuropas, werden durchschnittlich alle 49 Minuten gefüttert. Da rund um den Hof keinerlei Nahrungsquelle mehr zu finden war, flog das Männchen als Haupternährer eine Strecke von 1,5 bis 2 Kilometer, um vom Ackerweg die staubförmigen Samen des Vogelknöterichs im Kropf zu sammeln. Unterstellt, der Vogel hätte dies nur zehnmal am Tag gemacht, kämen bereits 30 bis 40 Flugkilometer zusammen, um die Reproduktion zu sichern. Eine stattliche Leistung für einen Vogel, der selbst nur um die 20 Gramm auf die Waage bringt.
Die Individuenzahl sinkt dramatisch
Der Prozess ist für jeden, der genauer hinschaut, bereits erkennbar. Unter den Arten, die verschollen sind oder gar ausgerottet wurden, befinden sich auffallend viele Arten, die in den Ackerlandschaften zuhause sind. Die Getreide-Miere oder der Acker-Meier, den es in Niedersachsen nur noch auf einem NABU-Acker bei Hattendorf gibt, sind Pflanzen, für die es hierzulande ansonsten offenbar keinen Platz mehr gibt. Auch Feldhamster, Feldhase oder Feldlerche, alles Tiere, die ihren Lebensort bereits im Namen tragen, sind rar geworden. Eine Folge der intensiven Landwirtschaft? Das liegt sehr nahe.
Es ist dem Entomologischen Verein Krefeld zu verdanken, 2017 den dramatischen Artenschwund unter den Insekten beziffert zu haben. Erstmals wurde belegt: Es geht nicht nur einzelnen Arten an den Kragen. Das wusste, wer es wissen wollte, aus zahlreichen Untersuchungen schon vorher. Sondern die Individuenzahl sackte dramatisch ab, egal um welche Art es auch geht.
Beispiel Hummel
Jeder kennt sie und jeder mag sie, die etwas pummeligen Blütenbesucher, die emsig und unbeirrt den Garten nach Nektar und Pollen absuchen. Doch die Idylle trügt, Hummeln sind bedroht. In unseren Gärten treten aber im Prinzip nur die sechs bis sieben sehr häufigen, ungefährdeten Arten auf. Die übrigen 13 Arten der heimischen staatenbildenden Hummelarten sind gefährdet, vom Aussterben bedroht oder bereits verschwunden.
Gerade auf dem Land macht die Umgestaltung der Agrarflächen in großflächige Monokulturen vielen von ihnen zu schaffen, sind viele doch auf eine extensive Bewirtschaftung angewiesen. Der massive Anbau der „Energiepflanzen“ Mais verschlimmert die Sache noch. Dabei ist eine nachhaltige Landwirtschaft ohne Hummeln nur schwer vorstellbar.
Im Rahmen des Projektes "Hummelschutz in Niedersachsen" hat der NABU die Lage der Hummel in Niedersachsen erfasst und bewertet. Es wurden Gebiete ausgewählt, in denen Fördermaßnahmen sinnvoll erscheinen. Auf geeigneten Flächen werden Hummeltrachtpflanzen - hauptsächlich Rotkleesorten – ausgesät und Nistmöglichkeiten hummelfreundlich optimiert. Sind die Hummelvorkommen gesichert und stabilisiert, können diese Flächen als „Hummelschutzgebiete“ ausgewiesen werden. Ideal ist eine langfristige Kooperation mit Kommunen, Landwirten und anderen Flächeneigentümern sowie auch nachhaltigen/regionalen Tourismusorganisationen. Die Flächen werden regelmäßig begangen und kontrolliert und die Bestandsentwicklung festgehalten.
Von der Agrarindustrie und dem Bauernverband trotz der Auswertung mit den modernsten wissenschaftlichen Methoden wegen angeblich fehlender Wissenschaftlichkeit angefeindet, zeigen diese Zahlen einen eindeutigen, gefährlichen Trend: Von anderen Wissenschaftlern beneidet, verfügt der Verein nicht nur über aktuelle Insektendaten aus dem 100 Hektar großen Naturschutzgebiet Orbroich bei Krefeld aus dem Jahr 2013, sondern mit den selben Methoden erhobene Daten von 1989. Der Vergleich zeigt ein desaströses Ergebnis: Die Forscher fanden 24 Jahre später nur noch ein Viertel der zuvor gefangenen Biomasse. Ein Rückgang um mehr als 75 Prozent. Bei einzelnen Fallenleerungen verzeichneten die Sammler sogar ein Minus von 90 Prozent. Ähnliche Daten publizierte der NABU für ganz Nordrhein-Westfalen. „Während wir 1995 noch 1,6 Kilogramm aus den Untersuchungsfallen sammelten, sind wir heute froh, wenn es 300 Gramm sind“, kommentiert NABU-NRW-Landeschef Josef Tumbrinck. Die Entomologen bereiten gerade die Veröffentlichung neuer Daten vor.
Die Folgen industrieller Landwirtschaft
Die offiziellen Statistiken tragen dazu bei, wenn der Reichtum verklärt wird. Wenn Ornithologen etwa heute beklagen, dass in den letzten 35 Jahren die Zahl der Rebhühner um mehr als 90 Prozent zurückgegangen ist, dann unterschlägt diese Aussage stets die Massen von vor 50 oder 75 Jahren. Denn bereits in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gab es vermutlich nur noch 20 Prozent der Rebhuhnmenge, die noch in den 50er Jahren angetroffen wurde, und nur zehn Prozent, geht man noch mal ein paar Jahre zurück. Darauf weist der Ornithologe Stefan Stübing (er ist Vize-Präsident der Hessischen Gesellschaft für Ornithologie und Naturschutz HGON sowie des Dachverbands der Deutschen Avifaunisten) hin.
Das bedeutet: Lebten in einer Gemarkung 1955 noch 100 Rebhühner, waren es 1980 noch 20. Doch heute sind nur noch ein oder zwei übrig geblieben! Das ist das Ergebnis einer Landwirtschaft, die mit Chemie, mit Herbiziden und Insektiziden, mit engen Fruchtfolgen, hoher Technisierung und überzogener Düngung das einstige Leben vom Acker vertrieb.
Was für das Rebhuhn gilt, das zeigt sich auch bei der Grauammer, einem typischen Vogel der Ackerlandschaften: So haben Untersuchungen des Ornithologen Ralf Joest von der Arbeitsgemeinschaft Biologischer Umweltschutz Soest gezeigt, dass von einst 180 singenden Grauammern in seinem Untersuchungsgebiet so gut wie keine mehr übrig geblieben ist: Die Art sei in der Kulturlandschaft der Hellwegbörde am Südostrand der westfälischen Bucht in Nordrhein-Westfalen „praktisch ausgestorben“. Und das, obwohl dort vor zehn Jahren extra ein Schutzprogramm aufgelegt wurde.
Beispiel Grauammer
Eines der letzten Vorkommen Niedersachsens dieser Vogelart befindet sich im Wendland. Es wurden dort mehrere Futterstellen eingerichtet, um den Vögeln über den Winter zu helfen. Bei vielen Grauammerpopulationen (Emberiza calandra) ist nicht genau bekannt, was sie über den Winter treiben. Nach derzeitigem Kenntnisstand kommen bei Grauammern sowohl Mittel- als auch Kurzstrecken- und Teilzieher vor, von denen jedoch auch einige über Winter an ihrem Standort verbleiben.
Um festzustellen, ob sich im Winter Grauammern in ihrem Brutrevier im Wendland aufhalten, wurden mit Hilfe des NABU Hamburg und des NABU Lüchow-Dannenberg Stellen eingerichtet, an denen regelmäßig eine von der Versele-Laga GmbH finanziell unterstützte Körnermischung ausgebracht wurde, um den Vögeln während schlechter Witterung über den Winter zu helfen.
Auch bei der Grauammer sind Vergleiche, die nur die jüngere Vergangenheit abbilden, irreführend, weil sie nur einen verharmlosenden Blick auf den Abwärtstrend werfen. Denn wenn man nur die vergangenen 20 Jahre betrachtet, dann ergibt sich zwar auch schon ein Rückgang um fast 100 Prozent, nämlich von rund 180 auf vielleicht ein oder zwei Brutpaare. Doch dieser Rückblick zeigt nur einen Ausschnitt. Denn geht man weiter in die Vergangenheit zurück, offenbart sich das wahre Desaster: Vor 40 oder 50 Jahren lebten im Gebiet vermutlich mehr als 1.500 singende Grauammern!
Der Wandel der Landwirtschaft
Was sind die Gründe für dieses Desaster? Die Vorgeschichte: Die landwirtschaftliche, ackerbauliche Nutzung in Deutschland, die vor etwa 7.000 Jahren begann, änderte sich bis zum Ende der Drei-Felder-Wirtschaft vor rund 150 Jahren mit ihrem Wechsel von Wintergetreide – Sommergetreide – Brache eigentlich nur bezogen auf die Ausdehnung der Fläche (heute ist ein Drittel des Landes und mehr als zwei Drittel der landwirtschaftlichen Fläche Acker), aber nicht in der Intensität der Nutzung. Jahrhunderte lang konnten sich Tier- und Pflanzenwelt an die angebauten Fruchtarten und die Bewirtschaftungsabläufe anpassen.
Dann setzte der Wandel ein. Nicht allmählich, sondern immer schneller, immer ruckartiger und damit für die Natur immer schockierender – im Hinblick auf die Anpassungsmöglichkeiten. Spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist es für die Arten, die an die Agrarlandschaft angepasst sind, immer schwerer, sich auf die neuen Techniken und auf die zunehmend verwendeten chemischen Mittel einzustellen. Das mag in den ersten 50 Jahren des vergangenen Jahrhunderts nach heutigen Maßstäben zu nur wenigen Konsequenzen geführt haben. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die Veränderungsdynamik dann von Jahr zu Jahr zu und kletterte auch in die ungünstigen Lagen der Mittelgebirge hinauf oder erfasste auch die ungünstigen Standorte innerhalb der traditionellen Gunstlagen.
Mancherorts muss dieser Prozess schon sehr früh zu beobachten gewesen sein, denn der württembergische Pflanzensoziologe Robert Gradmann schrieb schon 1950 über die Schwäbische Alb, dass „die blumengeschmückten Kornfelder aus unserer heimischen Landwirtschaft schon fast verschwunden sind, und nächstens wird man kleine Schutzgebiete einrichten müssen, auf denen die Dreifelderwirtschaft grundsätzlich mit schlecht gereinigtem Saatgut betrieben wird.“
Die Knackpunkte der technisierten und Chemie-basierten Landwirtschaft lauten:
1: Es entkoppelten sich Mähzeitpunkt und Häufigkeit der Mahd im Grünland von
den Rhythmen der Tier- und Pflanzenwelt.
2: Die Fruchtfolge wurde vereinfacht und der Maisanbau nahm dramatisch zu.
3: Brachflächen und weitgehend naturbelassene Feldraine verschwanden.
4: Eine hohe Saatgutreinigung reduzierte die Vielfalt. Von diesem Punkt ist auch der Ökolandbau betroffen.
5: Trockenlegung und Nivellierung des Wasserhaushaltes zerstörten Biotope und Habitate.
6: Schließlich setzte durch den Einsatz von Dünger (Kalkstickstoff wirkt wie ein
Herbizid; Stickstoff verschiebt die Konkurrenzverhältnisse zu Gunsten der wenigen Stickstoff-affinen Arten, verdrängt andere) und das vermehrte Aufkommen der Pestizide eine direkte Vertreibung und Vernichtung von Insekten und Kräutern und damit das Verschwinden der von ihnen abhängigen Vogelarten ein.
7: Mit der Hybridzüchtung, aber auch mit der Gentechnik und ihr verwandter
Zuchtverfahren kommt dann die nächste Beschleunigungsstufe, weil nun die
Kulturpflanze mit allen günstigen und ungünstigen Eigenschaften immer schneller verändert wird.
8: Immer mehr Gifte in Form von Pestiziden, die sich mal akut als Bienenkiller in den Schlagzeilen wiederfinden, meistens aber genauso still wie flächendeckend letal oder schleichend letal wirken.
So nahmen über Jahre hinweg weder Öffentlichkeit noch Verbände so richtig wahr, welchen massiven Flurschaden die Mitte der 90er Jahre sukzessive auf die Felder gesprühten oder als Saat-Beize in den Boden gebrachten Gifte aus der Wirkstoffklasse der Neonikotinoide anrichteten. Die Gefährlichkeit dieser Insektizide, die teilweise über Jahre im Boden weiter wirksam sind, ging unter in der Diskussion über das ebenfalls für die Biodiversität fatale Total-Herbizid Glyphosat. Inzwischen wurden zwar die wesentlichsten Neonikotinoide in der EU 2013 zunächst teilweise, von kommenden Jahr an im Freiland sogar komplett verboten. Dennoch tauchen sie wieder auf.
Das geschieht über die so genannten Notfallgenehmigungen, wie sie bei Pestiziden immer dann völlig legal erteilt werden, wenn es angeblich keine Alternativen in der Schädlingsbekämpfung gibt. Diese Methode hat das angebliche Aus für die drei Neonikotinoide seit 2013 mehrfach durchlöchert, möglicherweise in mehr als 100 Fällen. Die EU-Behörden schritten aber nicht ein. Eine inzwischen für 2017 von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA vorgenommene Bewertung der Notzulassungen in sieben EU-Staaten, darunter Ungarn, Rumänien und Finnland, offenbart immerhin, dass es in einer Vielzahl von Fällen sehr wohl Alternativen gegeben hätte: vom ausreichenden Fruchtwechsel bis hin zum Einsatz des Pflugs – statt der Chemie.
Verschärft wird die Situation der „modernen“ Landwirtschaft durch einen simplen, aber fatalen Effekt bei der chemie-basierten Schädlingsbekämpfung. Ihn beschreiben Wissenschaftler des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung so: Mit den Schädlingen werden in vielen Fällen auch die Nützlinge beseitigt, also die natürlichen Gegenspieler. Die Vernichtung der Nützlinge aber hat einen Effekt, der erst später sichtbar wird. Denn in der nächsten Generation entwickeln sich die Schädlinge und ihre Nachkommen schneller, weil ihre natürlichen Feinde nur in geringer Zahl vorkommen oder gar völlig fehlen. Die Forscher: „Am Ende sind die Probleme durch den Pestizideinsatz größer als zu Beginn.“
Die Folgen von (zu viel) Chemie in der Landwirtschaft
In der Antwort auf eine Große Anfrage der Grünen schreibt die niedersächsische Landesregierung zum Insektensterben im August 2018, es seien zwei Faktorenkomplexe für den Rückgang entscheidend: „der Verlust an Lebensräumen und die qualitative Verschlechterung von Insekten-Lebensräumen“. In den vergangenen 30 Jahren ist der Anteil der Äcker und Wiesen an der Bodenfläche von 64 auf 60 Prozent gesunken, der des Grünlandes noch stärker, von 41 auf 34 Prozent. Die Bauern haben mehr gedüngt und sie haben mehr Pflanzenschutzmittel ausgebracht: 47.000 Tonnen gegenüber 36.000 vor 30 Jahren. Sie haben mehr Neonikotinoide gespritzt – eine Stoffgruppe, die besonders für Insekten gefährlich ist.
Da sich die Hälfte der niedersächsischen Brutvogelarten von Insekten und Spinnen ernährt, liegt aus Sicht der Landesregierung die Vermutung nahe, dass der Insektenschwund auch ein Grund für den Vogelschwund sein könnte. Mehr als die Hälfte der 212 Brutvogelarten im Land gelten als gefährdet. Bei 30 Prozent der Insektenfresser ist der Bestand in den vergangenen 25 Jahren zum Teil dramatisch kleiner geworden.
Ist nicht nur die Landwirtschaft schuld?
Aber es gibt noch andere Faktoren: „Nicht alles, was sich ‚grün’ nennt, dient auch dem Naturschutz“, gibt in diesem Zusammenhang das Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung zu Bedenken. Schon deshalb: Mehr als zwei Drittel der Fledermäuse, die hierzulande an Windkraftanlagen ums Leben kommen, sind wandernde Tiere zwischen dem Sommer- und dem Winterquartier. Wie beim Rotmilan fällt Deutschland also auch bei den Fledermäusen im Zuge der Energiewende eine internationale Verantwortung zu.
Doch solche Zahlen werden locker getoppt vom Tod an der Freileitung: In einem Gutachten des Büros TNL Umweltplanung, erstellt im Auftrag des NABU, heißt es, allein an den 60.000 Kilometern Hoch- und Höchstspannungsleitungen kämen jährlich bis zu 1,8 Millionen Brutvögel und bis zu einer Million Zugvögel durch Kollisionen ums Leben. Nicht gerechnet wurden Stromschlagopfer im Bereich der Masten sowie Kollisionen an kleineren Leitungen. Es kommen hinzu: Der Tod an Fensterscheiben und Glasfronten in den Städten, den US-Wissenschaftler allein für Nordamerika auf pro Jahr 365 Millionen bis zu einer Milliarde nur in den USA beziffern. Hinzu kommen Millionen Vogelopfer im Straßenverkehr.
So haben US-Forscher in Experimenten mit dem Braunkopf-Kuhstärling herausgefunden, dass Vögel den Autos nur bis zu einem Tempo von 120 Stundenkilometern ausweichen können. Britische Wissenschaftler wiederum entdeckten, dass der Vogeltod bereits ab Tempo 50 deutlich zunimmt. Das Verwunderliche: Ältere von 1969 und spätere Studien aus den frühen 1980er Jahren zeigen in der Anzahl der tödlich Verunglückten keinen Unterschied. Der Grund: Schon damals war die Zahl der Vögel dermaßen zurückgegangen, dass der Anstieg des Autoverkehrs sich auf die Opferzahlen gar nicht mehr ansteigend auswirken konnte!
Bleiben Jäger und Hauskatzen: In den USA und Kanada sollen angeblich jedes Jahr 2,6 Milliarden Vögel durch Katzen umkommen, eine offenbar extrem hoch gegriffene Zahl, denn sie würde ein Viertel der Population umfassen.
Und die Jagd: Warum werden allein in Bayern jedes Jahr 7.000 Kormorane geschossen? Was noch nicht einmal einen Effekt auf die Teichwirtschaft hat, denn es werden mehrheitlich Zugvögel abgeschossen!
Beispiel Großer Brachvogel
Gemeinsam mit der Stiftung Naturschutz des Landkreises Rotenburg, die das Wiesenvogel-Schutzprojekt finanziert, hilft der NABU Großem Brachvogel und Kiebitz. „Wir schützen Gelege mit Elektrozäunen gegen Fraßfeinde am Boden“, erläutert die Projektleiterin Simone Kasnitz. „Gegen Feinde aus der Luft, etwa Krähen und manche Greifvögel, müssen sich die Wiesenvögel selbst zur Wehr setzen. Das gelingt ihnen am besten gemeinsam mit benachbarten Brutpaaren.“
Die Hoffnung ist, die Populationen in den Schwerpunktgebieten mittelfristig so zu stärken, dass sie irgendwann ohne menschliche Hilfe auskommen.
Der Landkreis Rotenburg zahlt in den Schwerpunktgebieten Prämien für Landwirte, die Wiesen bis zum Flüggewerden der Küken nicht bewirtschaften. „Dann gerät garantiert kein Tier in den Mäher und außerdem haben die Küken nach dem Schlüpfen ausreichend Möglichkeiten, sich zu verstecken“, berichtet Simone Kasnitz. „Davon profitieren nicht nur Wiesenvögel, sondern alle Tiere im Ökosystem Wiese.“
Brachvögel und Kiebitze waren früher Charaktervögel der feuchten Wiesen. Trockenlegungen, Grünlandumbrüche und Intensivierung der Bewirtschaftung haben die Landschaft so verändert, dass es vom Brachvogel heute kreisweit nur noch rund 100 Paare gibt. Nicht viel besser sieht es beim Kiebitz aus. Hinzu kommt, dass auf die wenigen verbliebenen Exemplare heute im Verhältnis mehr Feinde wie Wildschweine, Füchse und Marder kommen.
Oder die Nimmersatten: Warum werden in der Gegend von Bordeaux jedes Jahr bis zu 30.000 Ortolane (auch Gartenammer genannt) gefangen und gemästet, anschließend in Armagnac „ertränkt" und als teure Delikatesse verkauft? Immerhin hat Frankreich jetzt ein Vertragsverletzungsverfahren der EU in dieser Sache kassiert. Warum erlegen die Waidmänner jedes Jahr um die 9.000 der raren Waldschnepfe - und das sogar im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer? Wo ist der vernünftige Grund, den das Gesetz fordert? Denn bei der Waldschnepfe geht es noch nicht einmal ums Fleisch, sondern um das Federkleid, das Jäger als Trophäe betrachten. Und: Warum gibt es an der ägyptischen Küste 700 Kilometer Zaun zum Vogelfang? Millionen von Vögeln werden dort vom Himmel geholt, vor allem solche, die vom Flug übers Mittelmeer im Herbst erschöpft die Küste erreicht haben.
Es sind also Millionen von Vögeln, die jährlich ihr Leben lassen, weil der Mensch unzulässig in die Natur eingreift. Und dennoch scheint die Natur diese horrenden Verluste wenigstens halbwegs ausgleichen zu können. Nur an einem Ort geht das nicht: auf dem Acker.
Der unbestrittene Hauptverursacher der Artenerosion ist und bleibt: die konventionelle, zunehmend agrarindustrielle Landwirtschaft. Den Beweis liefert die Vogelwelt: Keine zweite Vogelgruppe ist von derart rapiden und flächendeckenden Rückgängen betroffen wie die der Feld- und Wiesenbewohner. Vögel der Wälder oder der Meere, Vögel der Siedlungen und der Binnengewässer haben in der Masse derartige Verluste bei weitem nicht zu verzeichnen, befinden sich teilweise sogar im Aufwind.
Das belegen auch die neuesten Zahlen des European Bird Councils Census (EBCC), in dem die Daten der 28 Länder gesammelt, ausgewertet und der Politik zur Verfügung gestellt werden, belegen den Trend: Agrarvögel sind die Verlierer in Zeiten des Insektenschwunds, während andere Vogelarten sich im Aufschwung befinden oder wenigstens nicht nennenswert zurückgehen.
Die aktuellen, 2018 veröffentlichten Zahlen: 170 Arten aus 36 Jahren (1980 – 2015) zeigen klar, dass negative Trends vor allem bei häufigen Arten der Agrarlandschaft ungebrochen andauern: Seit 1980 gingen ihre Bestände in der EU um 55 Prozent zurück! Von 39 Arten, die dieser Gruppe zugeordnet werden, befinden sich 24 im Rückgang, nur sechs geht es besser.
Zu den größten Verlierern seit den 80er Jahren gehört die Haubenlerche, die seit 1980 satte 98 Prozent ihres Bestands verlor. Rebhühner gingen Jahr für Jahr um sieben Prozent, Ortolane um sechs Prozent und Wiesenschafstelze und Turteltaube im Mittel um vier Prozent zurück. Von einer Trendumkehr kann also keine Rede sein.
Deshalb setzt sich der NABU auf allen Ebenen, von der EU-Ebene bis zur Ortsebene, für eine neue, naturverträgliche Agrarpolitik ein. Außerdem versucht der NABU Niedersachsen mit verschiedenen Projekten gegenzusteuern. Doch diese Projekte können immer nur punktuell wirken und keinesfalls die Versäumnisse der Politik wettmachen.
Text: Stephan Börnecke