Niedersachsens Wälder
Im Spannungsfeld von Klimawandel, Energiewende, Naturerlebnisraum und überlastetem Ökosystem
Forstwirtschaft in der Krise
Von Natur aus läge der Anteil der Laubbäume in Niedersachsens Wäldern bei weit über 90 Prozent und würde im Klimawandel noch weiter zunehmen. Dabei wären Buchenwälder und bei zunehmend warm-trockenem Klima auch an Baumarten reiche Eichen-Mischwälder dominierend. Heute macht die Buche laut dritter Bundeswaldinventur bundesweit aber nur 16,1 Prozent der Waldbäume aus. Den Nadelbaumanteil hat die Forstwirtschaft dagegen auf national 56,4 Prozent gesteigert. So kommt es, dass 86 Prozent unseres Waldes nur wenig alte, kräftige Bäume aufweist und gar nur 14 Prozent der Bäume älter als 120 Jahre sind. Damit hat unsere Gesellschaft eine Risiko-Hypothek geerbt.
In der Folge hat die aktuelle Nadelholz-Krise große Teile der Forstwirtschaft an den Rand des Ruins geführt, die mittel- und langfristige Rohstoffversorgung der Holzwirtschaft untergraben, kurzfristig Subventionen von bisher 1,5 Milliarden Euro aus den Bundes- und Länder-Haushalten ausgelöst und pandemie-bedingte Wirtschaftsprogramme ausgebremst. Dies belegt nachdrücklich, dass die Nichtbeachtung ökologischer Zusammenhänge und Grenzen zugunsten einer kurzfristig ertragsmaximierten, risikobereiten Holzerzeugung nicht den Anforderungen einer ökologischen, sozialen und ökonomischen Nachhaltigkeit entspricht.
Die für uns alle unverzichtbaren Ökosystemleistungen, wie Humusbildung, Kühlung, Kohlenstoff- und Wasserspeicherung, Holz- und Sauerstoffproduktion sowie Erholung können auf den riesigen Schadensflächen und ohne Erhalt der biologischen Vielfalt nicht dauerhaft erbracht werden. Stattdessen führen Treibhausgas-Emissionen (CO2, Lachgas, Methan) dort zu einer leider aktuell weltweit zu beobachtenden Negativ-Rückkopplung, welche einstige Treibhausgassenken zu Treibhausgasquellen werden lässt und damit zu einer zunehmenden Beschleunigung des Klimawandels führt.
Ökologisch orientiertes Waldmanagement
Darum fordert die aktuelle Waldresolution des NABU, dass das Waldmanagement zukünftig am Primat der Ökologie ausgerichtet werden muss. Ziel müssen mit Blick auf ihre Dynamik, Struktur und Zusammensetzung möglichst naturnahe und damit resiliente Wälder sein. Das Waldmanagement muss insbesondere auf Naturverjüngung aller Baumarten der natürlichen Waldgesellschaft, Strukturreichtum, große Biomassevorräte (einschließlich Totholz) sowie auf ein grundsätzlich möglichst feucht-kühles Waldinnenklima abzielen. Dabei sollte das Ziel verfolgt werden, den natürlichen Sukzessionsstadien von der Pionier- über die Optimal- bis zur Zerfallsphase als Zyklus-Mosaik-Konzept mit möglichst typischen Anteilen und Artenspektren (einschließlich der Lichtwaldarten) Raum zu geben. Dies kann passend zum jeweiligen Waldmanagement, vom umbauwürdigen Nadelholz-Reinbestand bis hin zum Wildnisgebiet, in entsprechend abgestufter Weise erfolgen. Allerdings müssen dabei die grundlegenden Habitat-Strukturen, Ökosystemfunktionen und die Kohärenz der Lebensräume erhalten bleiben.
Hierbei gilt insbesondere:
→ Großflächige Verjüngungsverfahren, wie Großschirm- oder Kahlschläge, sind grundsätzlich zu untersagen. In alten Wäldern und Laubmischwäldern, die hitze- oder trockenheitsbedingte Schäden aufweisen oder anderweitig gefährdet sind, muss der Einschlag beendet bzw. pausiert werden.
→ Altersklassenwälder sind möglichst durch zeitliche Streckung der Holzentnahme in naturnahe, dauerwaldartig bewirtschaftete Wälder zu überführen.
→ Wenn die Instabilität von Nadelholz-Reinbeständen oder entstandene Kahlflächen dies nicht zulassen, ist zumindest zu fordern, möglichst viele Elemente einer natürlichen Bewaldung zu integrieren, beispielsweise durch Belassen von Totholz und Sonderstrukturen (z.B. Wurzelteller). Dies hilft auch dabei, die Kohlenstoffvorräte sowie die Nähr- und Spurenelemente möglichst weitgehend im System zu halten, was für die künftige Produktivität und den Klimaschutz von zentraler Bedeutung ist.
→ Das Waldmanagement muss natürlichen oder zumindest naturnahen Waldgesellschaften auch bei der Holzerzeugung den Vorrang geben. Nur diese Bestände lassen, aufgrund optimaler Standortanpassung und äußerst komplexer Ko-Evolution aller Organismen, funktionierende Ökosysteme und damit langfristige Stabilität und Rentabilität erwarten.
→ In allen besonders geschützten Biotopen, Flora-Fauna-Habitat-Lebensraumtypen (FFH-LRT) und -Gebieten sowie in Schutzgebieten mit entsprechend definiertem Schutzzweck, muss auf die Einbringung von Baumarten, die nicht zur aktuellen oder künftigen natürlichen Waldgesellschaft gehören, vollständig verzichtet werden. Die Entwicklung muss konsequent auf den jeweils optimalen Erhaltungszustand ausgerichtet werden.
→ Für nicht mit öffentlichen Geldern geförderte Bestandsbegründungen außerhalb von Schutzgebieten mit diesbezüglicher Regelung und geschützten Biotopen/FFH-LRT ist ansonsten der im § 5 Abs. 3 BNatschG festgelegte “hinreichende Anteil standortheimischer Forstpflanzen” über die gute fachliche Praxis verbindlich so zu definieren, dass die Funktionalität des Waldökosystems und die Lebensraumfunktion auch auf Bestandsebene gewahrt bleiben.
Erfolg des Niedersächsischen Weges: Niedersächsische Landesforsten entwickeln 1.020 Hektar im Solling zur neuen Wildnis mit „Urwald von morgen“
Auf einer 1.020 Hektar großen Fläche nordöstlich von Uslar bleibt der Wald zukünftig der natürlichen Entwicklung überlassen. Eine entsprechende Vereinbarung zwischen den Landesforsten und dem Landwirtschaftsministerium, die den Zeitplan und den finanziellen Ausgleich regelt, ist 2021 unterzeichnet worden.
Damit wurde, entsprechend der Vereinbarung aus dem Niedersächsischen Weg, das Netz an ungenutzten Wäldern, das landesweit zuvor 10 Prozent unseres Landeswaldes umfasste, auf insgesamt 34.000 Hektar Waldfläche erweitert. Viele, nahezu ausgestorbene, sog. Urwald-Relikt-Arten sind auf Altbestände einschließlich der Zerfallsphase angewiesen, die sich im bewirtschafteten Wald kaum finden.
Der zuständige Wildnis-Förster wird die vorkommenden Arten und Biotope kartieren, einen Managementplan und Wege-Konzepte entwickeln, um möglichst große ungestörte Bereiche einschließlich der Bachtäler einrichten zu können, sowie die zukünftige naturdynamische Entwicklung erfassen, um Schlussfolgerungen für eine naturnahe Bewirtschaftung aller anderen Flächen gewinnen zu können. Bereits seit 2020 wird vorbildlich auf jede Ernte von Laubbäumen verzichtet.
Die Einbettung des Wildnisgebietes in den nach den Grundsätzen des LÖWE+-Programms (Langfristige ökologische Waldentwicklung) bewirtschafteten Landeswald mit seinen Naturwäldern, Habitatbaumflächen und einzelnen Habitatbäumen ermöglicht einen Biotobverbund mit Wanderbewegungen bedrohter Arten.
Umweltminister Lies erklärte zur Eröffnung: „Dass wir nun ein echtes Wildnisgebiet in Niedersachsen bekommen, ist wirklich etwas ganz Besonderes, wir können froh sein, dass die beiden Naturschutzverbände hier so hartnäckig verhandelt haben.“ Gisela Wicke aus dem NABU-Landesvorstand ergänzte: „Der Solling gehört aufgrund seiner bodensauren Buchenbestände und seines Umfanges zu den bedeutendsten Lebensräumen dieses Typs in Europa. In diesem Wildnisgebiet sind mindestens die Hälfte der Buchenbestände über 150 Jahre alt. Das ist ein Lebensraum, den es in dieser Weise in Europa sonst kaum noch gibt. Davon können Wildkatze, Luchs, Schwarzstorch sowie zahlreiche Insekten-, Pilz- und Pflanzenarten profitieren.“
Ökosystemleistungen erhalten: Fokus auf Biodiversität und Ressourcen-Erhalt
Die ökologischen und ökonomischen Folgeschäden der kalamitätsbedingten Kahlflächen müssen unverzüglich begrenzt werden. Es sind Gegenmaßnahmen erforderlich, die Erosion, reduzierter Wasserspeicherfähigkeit, Humusabbau, Nitratauswaschung, Nährstoffverlusten und Treibhausgas-Emissionen (Kohlendioxid, Methan und Lachgas) aus den freigelegten Waldböden entgegenwirken sowie den Verlust der Biodiversität und die auf den Freiflächen entstehenden Klimaextreme abmildern.
Dazu ist die Naturverjüngung auch auf den Schadflächen der ökologische Schlüsselfaktor und Grundlage des naturnahen Waldbaus. Die Vorzüge der Naturverjüngung, wie bessere Wurzelentwicklung, geringerer Verbiss, höhere Trockenheitstoleranz, fehlende Einschleppung von Schadorganismen und Adaption durch Nutzung des Mikro-Reliefs, sind allgemein akzeptiert.
Forstkulturen sind dagegen arten- und strukturarm, anfällig, teuer und führen nachweislich zu rascher genetischer Einengung, wodurch die für die Klimawandelanpassung essenzielle genetische Vielfalt verloren geht.
Eingriffe, Erschließungen und Bewirtschaftungsmaßnahmen, welche die natürliche Humus- und Bodenbildung, Grundwasserbildung, Abflussverzögerung und Wasserspeicherkapazität wesentlich beeinträchtigen, sind zu unterlassen. Ein entsprechendes Monitoring, beispielsweise über Fernerkundung, muss implementiert werden.
Fremd-Stoffeinträge (u.a. reaktive Stickstoffverbindungen, Pestizide) in den Wald sind kurzfristig zu reduzieren und mittelfristig ganz zu verhindern.
Wald nicht verheizen
Die stoffliche Nutzung von Holz (besonders Konstruktionsholz) muss dem Ziel einer langfristigen Kohlenstoffbindung Rechnung tragen. Die energetische Nutzung von Holz ist erst am Ende der Mehrfachnutzung (Kaskade) sinnvoll. Die direkte Verbrennung von Frischholz ist kontinuierlich zu reduzieren. Die Umrüstung von Kraftwerken auf Holzverbrennung ist unsinnig und darf nicht subventioniert werden.
Ökosystemleistungen honorieren
Private und kommunale Waldbesitzende, die ihr Waldeigentum nachweislich und wirksam im Sinne der Sicherung und Förderung der Ökosystemleistungen managen und dabei die gesetzlichen Mindestanforderungen übertreffen, sollten dafür aus Mitteln der öffentlichen Hand honoriert werden. Pauschale flächenbezogene Prämien lehnt der NABU dagegen entschieden ab.
Wälder im öffentlichen Eigentum sind im Sinne der Ökosystemleistungen vorbildlich zu managen. Zukünftig sollten vermehrt Vertrags- und Vergütungsmodelle zwischen Bund, Ländern und Kommunen sowie Bundes-, Landes- bzw. Kommunalwaldmanagement entwickelt werden, welche Leistungen der Biodiversitätserhaltung und des Ressourcenschutzes abbilden.
Die Ziele des Green Deal wirksam umsetzen
Gemäß der EU-Biodiversitätsstrategie und der „High Ambition Coalition (HAC) for Nature and People“, der sich Deutschland angeschlossen hat sowie der angestrebten neuen Ziele der UN-Konvention über die Biologische Vielfalt (CBD) sollen bis 2030 jeweils 30 Prozent der europäischen Land- und Meeresflächen unter Schutz gestellt sein. Für alle Schutzgebiete müssen dabei klar definierte, wirksame Erhaltungsziele und -maßnahmen festgelegt und angemessen überwacht werden. Auf einem Drittel der geschützten Fläche soll ein strikter Schutz gelten. Wir fordern die jetzige und die künftige Landesregierung dazu auf, aktiv für die Ziele und Instrumente des Green Deals einzutreten und zusammen mit EU, Bund, den anderen Ländern und der Zivilgesellschaft die EU-Biodiversitätsstrategie konsequent umzusetzen.
→ Ein besonderer Schwerpunkt muss entsprechend der EU-Strategie auf Gebiete mit sehr hohem Biodiversitätswert oder -potenzial gelegt werden. Dabei ist von Kommission, Rat und Parlament der EU eine Umsetzungspflicht für die Mitgliedsstaaten beschlossen worden, welche verbindlich vorgibt, alle verbleibenden Primär- und Altwälder bzw. “old-growth forests” zu erfassen, zu überwachen und strikt zu schützen. Laut EU fallen gemäß der Definition der UN-Biodiversitätskonvention (CBD) unter die Altwälder auch sekundäre Wälder, die entsprechende Strukturen und Arten entwickelt haben. Dies ist auch in die EU-Forst-Strategie übernommen worden.
→ Ein strikter Schutz lässt natürliche Prozesse im Wesentlichen ungestört, sperrt aber den Menschen nicht aus. Wie beispielsweise in Naturwäldern, intakten Mooren, Wildnisgebieten sowie Kernzonen von Nationalparks oder Biosphärenreservaten.
→ Die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 9. Juni 2021, welche betont, dass im Einklang mit den internationalen Normen der Weltnaturschutzunion (IUCN) alle umweltschädlichen Industrietätigkeiten sowie der Ausbau der Infrastruktur in allen Kategorien von Schutzgebieten verboten werden sollten, ist zu unterstützten. Dies ist insbesondere erforderlich, um die Geschlossenheit und Integrität der geschützten Waldlebensräume im Stress des Klimawandels nicht zusätzlich zu beeinträchtigen und damit die Ökosysteme nicht zusätzlich zu destabilisieren.
Im Rahmen der EU-Biodiversitätsstrategie entwickelt die Europäische Kommission derzeit eine Gesetzgebung zur Renaturierung. Für Waldlebensräume kann gerade in Niedersachsen Renaturierung nicht nur über die Förderung natürlicher Prozesse in bestehenden Wäldern relevant sein, sondern auch über die Neubegründung von Wald auf ackerbaulich genutzten, organischen Böden und in Überschwemmungsgebieten (prioritäre Weich- und Hartholz-Auwald-Lebensraumtypen) sowie zum Biotopverbund im Rahmen der Verbesserung der Kohärenz des Schutzgebietssystems beitragen.
Beispiel für die Waldnaturschutzarbeit des NABU Niedersachsen:
Seit Vertragsunterzeichnung des Maßnahmenpaketes für den Natur-, Arten- und Gewässerschutz am 26.05.2020 durchgehende Arbeit am „Niedersächsischen Weg“, u.a.:
- Schutzfunktionen des Waldes (Boden-, Wasser- und Klimaschutz) zukünftig stärker beachten
- Anteil der über 100-jährigen Bäume von momentan 25 % weiterentwickeln
- Anteil der 100- und 160-jährigen Bäume bei der Waldinventur explizit ausweisen
- Anteil der Bestandsphasen über 160 Jahre langfristig auf mind. 10 % erhöhen
- Durchschnittlicher Totholzvorrat von min. 40 Festmeter pro Hektar
- Grundsätzlicher Verzicht auf Kahlschläge
- Verbot einer ganzflächigen maschinellen Bodenbearbeitung auf Verjüngungsflächen einschließlich Mulchen
- Holzentnahmen und Pflegemaßnahmen berücksichtigen in besonderer Weise den Schutz von Säugetieren und Vögeln in der Brut- und Setzzeit
- Verpflichtung zur Bevorzugung von standortgerechter Naturverjüngung
- Entwässerungen in Waldmooren werden unterlassen
- Für den Naturschutz wertvolle Offenlandlebensräume im Wald wie Moore, Heiden, Trockenrasen oder Gewässer sowie strukturreiche Waldinnen- und -außenränder werden durch besondere Förderung des Landes und Dritter erhalten und entwickelt
- Historische Waldnutzungsformen wie Hutewälder, Mittelwälder und Niederwälder werden erhalten und gefördert
- Im Solling wird ein Wildnisgebiet von 1020 ha entwickelt